Die Welt ist 1000 Schritte lang
Charles Lewinsky: Johannistag. Nagel & Kimche 2007. 316 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 13, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 29. März 2007, S. 22.
Dörfliche Abgründe. Auslese.
Es ist wie jedes Jahr am Johannistag. In der Nacht werden große Feuer angezündet, um die bösen Geister zu vertreiben. Auch in dem kleinen französischen Dorf Courtillon. In 1000 Schritten ist das idyllische Provinznest zu durchmessen. Einer jener Orte, wo der pensionierte Richter noch Richter heißt, der ehemalige Pferdehändler noch Pferdehändler und der Bahnwärter immer noch Bahnwärter, obwohl hier seit dreißig Jahren kein Zug mehr gehalten hat. Aber nicht erst seit dem Johannistag ist nichts mehr wie vorher. Seit der deutsche Französischlehrer da ist, geschehen merkwürdige Dinge: Ein Mädchen fällt aus einem Fenster, ein Mann wird verprügelt, ein alter Partisan verkündet unverständliche Warnungen und eine neugierige Greisin wird erschossen. Zwischen all diesen Ereignissen ahnt der Studienrat und Ich-Erzähler dunkle Zusammenhänge und Verknüpfungen. Einige Spuren führen zurück zu einem Ereignis vor Kriegsende, über das alle Dorfbewohner schweigen. Mehr und mehr gerät der Fremde in das Netz dörflicher Verstrickungen. Und dass, obwohl er sich ursprünglich hierher zurückgezogen hatte, um in Ruhe und Abgeschiedenheit seine verbotene Liebe zu einer Schülerin zu verarbeiten. Die Melancholie der Briefe an seine verlorene Liebe mischt sich mit den dunklen Geheimnissen der Geschehnisse im Dorf zu einer dichten Atmosphäre. Abgerundet wird die spannende Erzählung durch die psychologisch gelungene Beschreibung der Charaktere. Man merkt, der Schweizer Autor, der 2006 für seinen Roman „Melnitz“ großes Lob erhielt, kennt sich aus: Er lebt selbst in einem kleinen französischen Dorf – in Vereux in der Franche-Comté. Ein Glück, dass Charles Lewinskys schon im Jahr 2000 bei Haffmanns erschienener Roman „Johannistag“ jetzt von Nagel & Kimche neu aufgelegt wurde. Eine gute Gelegenheit, ihn neu zu entdecken.