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Heimkehr des Erzählers

Gabriel Garcia Marquez: "Leben, um davon zu erzählen". Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2002. 603 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 6, Rubrik: Literatur, 2003, S. 22.

 

Autobiografie / Gabriel García Márquez entführt uns in seine Kindheit. Heimkehr des Erzählers.


„Leben, um davon zu erzählen“, ist der unspektakuläre Titel des ersten Teils der Autobiografie Gabriel García Márquez. Das scheinbar schlichte Motto ist zugleich erzählerisches Leitmotiv und Lebensphilosophie. Das Erlebte steht als Ursprung allen Erzählens am Anfang und ist damit Bedingung der Erzählung; Leben ist aber zugleich auch nur durch die Erinnerung, die der Stoff der Erzählung ist. Denn: „Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“

 

Marquez Erinnerung beginnt deshalb nicht ohne Grund gerade dort, wo er den Ursprung seines ersten „erlebten“ Erzählimpulses datiert: Seine Mutter bittet ihn, sie auf der Reise zum Verkauf des Hauses der Großeltern in Aracataca, in dem er geboren und seine Kindheit verbracht hat und sie aufgewachsen ist, zu begleiten. Eine Reise in die eigene Vergangenheit, deren Tragweite er sich damals noch nicht bewusst ist.

 

„Jetzt, mit mehr als fünfundsiebzig wohlbemessenen Jahren, weiß ich, dass die Entscheidung zu dieser Reise die wichtigste war, die ich in meiner Laufbahn als Schriftsteller zu treffen hatte. Das heißt: in meinem ganzen Leben.“ Der kolumbianischer Erzähler schreibt damit den literarischen Topos fort, der im Thomas Mannschen „Tonio Kröger“ zum Paradigma geworden ist: eine Reise zu den autobiografischen Ursprüngen mit dem Ziel, den Anfängen der Erinnerung und dem Beginn des Erzählens auf die Spur zu kommen.

 

Die Zeitreise führt Mutter und Sohn bereits zu Beginn der Fahrt symbolträchtig auf einem böse zitternden maroden Flussdampfer durch trübes Wasser und morastige trostlose Sumpflandschaften in die je eigene Erinnerung und zugleich in die Vergangenheit Kolumbiens zurück. Immer tiefer hinein in das Land der Kindheit trägt sie der gottverlassene menschenleere Zug, vorbei an ausgestorbenen Bahnhöfen und aufgegebenen Häusern. Der Ausruf der Mutter beim Blick aus dem Waggon wirkt wie ein Omen: „Schau, dort ist die Welt untergegangen.“

 

Nicht zufällig wird die Zugfahrt durch eine Diskussion zwischen Mutter und Sohn über die von der Familie äußerst kritisch beurteilte schriftstellerische Zukunft begleitet, die für den Erzähler in der Gewissheit mündet: „ich will im Leben nur eins, ich will Schriftsteller sein, und ich werde es.“ Eine Gewissheit, die parallel zu der Erkenntnis wächst, dass sie, je weiter sie in die eigene Vergangenheit eindringen, nichts mehr an die Erinnerungslandschaft von damals erinnert: An den kleinen Ort, in dem sich gut leben ließ, wo jeder jeden kennt, eingerahmt von Bananenplantagen und der Sierra Nevadea de Santa Marta mit ihren weißen Bergspitzen, „am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahinschoss durch ein Bett mit polierten Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier“.

 

Am Ende der Reise wartet auf sie nicht das erhoffte Wiedersehen mit der eigenen Herkunft, sondern ein erschreckendes Niemandsland, das außerhalb jeder Zeit zu existieren scheint: „Dann hörte die Lokomotive auf zu pfeifen, verlangsamte die Fahrt und blieb mit einem langgezogenen Klagelaut stehen. Zuerst fiel mir die Stille auf. Eine körperhafte Stille, die ich mit verbundenen Augen von jeder anderen Stille der Welt hätte unterscheiden können. Die Rückstrahlung der Hitze war so stark, dass man alles wie durch gewelltes Glas sah. Die kleine gepflasterte Plaza hatte nicht einmal eine barmherzige Erinnerung an die dreitausend von der Staatsgewalt niedergemetzelten Arbeiter bewahrt. Denn so weit der Blick reichte, gab es keine Spur von menschlichem Leben und nichts, auf dem nicht wie Tau der glutheiße Staub lag. Meine Mutter blieb noch ein paar Minuten auf ihrem Platz sitzen, schaute auf das tote, zwischen verlassenen Straßen hingestreckte Dorf und rief schließlich voller Grauen: ‚Oh mein Gott!‘“

 

Dieser aus der Zeit gehobene Ort offenbart sich für den angehenden Erzähler aber als ein literarischer „Nunc stans“, ein produktives Vakuum, auf dessen Folie die Erzählung sich beinahe von selbst zu erzählen scheint. Nach dem Motto „Die Vergangenheit ist tot, es lebe die Erinnerung!“ gebiert sich die Erzählung buchstäblich aus dem Nichts, nahezu ohne Zutun des Erzählers.

 

Die Erzählung lässt die für den kleinen Gabito zentrale Figur des Großvaters Oberst Márquez auferstehen: einem beleibten Mann mit bürstenartigem Schnurrbart und runden goldenen Brillengläsern, der, immer im hellen Leinenanzug der Veteranen der Karibik und den Revolver unter dem Kopfkissen, bis ins hohe Alter vergeblich auf seine Pension wartet. Auch die Großmutter Tranquilina wird in der Erzählung wieder lebendig: Die leichtgläubige und beeindruckbare Frau, der die Mysterien des Alltags Angst und Schrecken einflößten und die „sah, wie sich die Schaukelstühle von alleine bewegten, wie das Gespenst des Kindbettfiebers in die Zimmer der Gebärenden schlich, der Jasminduft im Garten war für sie ein unsichtbarer Geist ...“

 

Eine bedeutsame Neigung zieht den Mythen beschwörenden Erzähler Márquez trotz des realisitschen, mutigen, sicheren Vorbildes des Großvaters eher zur Großmutter, der „Prophetin und heimlichen Heilerin“. Und so kann Gabito, der den Kern seines Wesens und Denkens den Frauen der Familie mit „ihrem starkem Charakter und sanftem Herzen“ zuschreibt, nie der steten Versuchung widerstehen, in die Welt der Großmutter einzudringen.

 

Zahlreiche Figuren erleuchtet die Erzählung blitzlichtartig wie die vielen wechselnden Besucher und Bewohner des mythischen Hauses, in dem es stets mehrere Schichten am Mittagstisch gibt und wo jeder seine Hängematte irgendwohin und sogar an die Bäume im Patio hängt. In der Kindheitserinnerung verweben sich phantastische Geschichten von Tante Mama und Tante Wenefrieda, dem Stier in der Küche, dem von Altersdemenz verrückten Hauspapagei mit Indio-Mythen und Liedern. Die erzählte Erinnerung reicht sogar über bis über die Grenzen des Erinnerbaren hinaus – bis in das Reich der erzählten Erzählung: ... über die Liebe der Mutter Luisa Santiaga zu dem jungen und stolzen Telegraphisten, die auch die von den Großeltern initiierte Reise über Bergpfade und auf Maultierrücken durch die Provinz dank der von verbündeten Telegrafisten gesendeten Liebesbotschaften übersteht, ... über das in zahlreichen Versionen erzählte Duell des Großvaters, bei dem er Medardo Pacheco tötet, und nach dem er mit der Familie aus seiner Heimat Barranca nach Aracataca flieht.

 

Die Erinnerung gebiert den Erzähler neu, der Gabito schon als Vierjähriger war, der, so wird berichtet, nur den Mund aufgemacht habe, um Unsinn zu erzählen. „Manchmal“, so Márquez, „machte mir das Gewissen zu schaffen, und ich versuchte, das durch rasches Zwinkern zu überspielen.“ Aber ein Arzt verteidigt die Fabulierlust Gabitos vorausschauend: „Die Lügen der Kinder sind Zeichen von einem großen Talent.“

 

Der aus dieser Neigung wachsende Kindheitstraum, als Akkordeonspieler Balladen singend durch die Provinz zu ziehen, wächst mit den Jahren zum konkreten Wunsch, Schriftsteller zu werden. Die Reise in die eigene Vergangenheit enthüllt sich schließlich als Initiationsreise der Erzählers. Paradoxerweise geht die Reise nicht nach vorn, sondern zurück zu dem Erzähler, der Márquez als Kind bereits war, dort, wo Erlebtes und Erzähltes noch eins waren. Diesen Punkt wiederzufinden im „erlebten Erzählen“ wird von da an zum alles bestimmenden Antrieb des gerade geborenen Schriftstellers. Die Rückkehr nach Barranquilla ist der Beginn einer Entwicklung zum Erzähler, der von diesem Zeitpunkt an ausschließlich von, mit und für die Literatur lebt.

 

In gar nicht zielgerichteten, scheinbar vorwiegend durch Zufälle und literarische Mitstreiter geprägten Lehrjahren, wird Márquez immer wieder, beinahe ungewollt, mit dem Zeitungsjournalismus konfrontiert. In einer Reportage findet der Erzähler am Ende des ersten Teils der Autobiografie dann auch schließlich, und widerum beinahe wie zufällig, zur tatsächlich „erlebten Erzählung“, dem Bericht eines Schiffbrüchigen. Signifikant ist, dass Márquez hier scheinbar lediglich „aufzeichnet“, was der Überlebende ihm berichtet. „Jedes Kapitel, das er mir erzählte, schrieb ich noch in der Nacht nieder, und es wurde dann am nächsten Abend veröffentlicht.“ Die in zwanzig Folgen publizierte Erzählung wird ein grandioser Erfolg. Das zentrale Geheimnis ist zwar die Unmittelbarkeit des Erlebten, die aber, so macht das entschiedene Urteil des Autors im juristischen Streit um die Urheberrechte deutlich, nicht die Bedeutung der Autorschaft mindert. Berauscht vom Erfolg, stellt sich, nicht nur bei den Redakteuren der Zeitung, die Frage: „Und was zum Teufel machen wir jetzt?“

 

Parallel zu Tonio Kröger, der nach der Reise in die eigene Vergangenheit die Bilanz zieht „Was ich getan habe, ist nichts, nicht viel, so gut wie nichts. Ich werde Besseres machen, Lisaweta, - dies ist ein Versprechen“, steht auch Márquez am Ende seiner Erzählung wieder am Anfang. Folgerichtig wird die vermeintliche Ankunft sogleich zum neuen Aufbruch: Márquez fliegt nach Europa, um für zwei Wochen als Sonderberichterstatter nach Genf zu reisen. „Aus Gründen, die nichts mit meinem Willen zu tun hatten, blieb ich nicht zwei Wochen, sondern fast drei Jahre.“, konstatiert er lakonisch. Seine Mutter verteidigt die nicht geplante Abwesenheit phantasievoll: „selbst Gott muss manchmal Wochen von zwei Jahren einlegen.“

 

Der Erzähler findet sich schließlich reisefertig auf dem Flughafen in Cartagena wieder, wo er einem alten Bekannten, dem Portier des Rascacielo, die vielsagende Auskunft gibt, die die Neugier auf die weiteren Folgen der Lebensgeschichte des Gabriel García Márquez lenkt: „‘Ich kann einfach nicht verstehen, Don Gabriel, warum Sie mir nie gesagt haben, wer Sie sind.‘ ‚ Ach, Lácides, mein Lieber‘, antwortete ich, noch kummervoller als er, ‚ich konnte es ihnen nicht sagen, denn selbst ich weiß bis heute nicht, wer ich bin.‘“




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